Mit dem Yang-Taijiquan in der Linie von Wang Yongquan kam ich 1989 in Berührung. Zuvor hatte ich mich bereits etliche Jahre praktisch mit einigen asiatischen Kampfsportarten und -künsten beschäftigt. Ursprünglicher Ausgangspunkt für mein Interesse an Kampfkunst war der Aspekt der Selbstverteidi- gung. Hinzu kam der Wunsch, meine körperlichen und geistigen Entwicklungsmöglichkeiten auszuschöpfen.

Am Anfang stand 1980 eine koreanische Sportart, Taekwondo. Die Anforderungen in Bezug auf Beweglichkeit, Koordination und Schnellkraft ermöglichten mir die Entwicklung solider körperlicher Grundlagen. Nach einigen Jahren intensiven und leidenschaftlichen Trainings musste ich mir jedoch allmählich eingestehen, dass die Ausrichtung des Taekwondo als Wettkampfsport nicht mit meinen persönlichen Entwicklungszielen und Wunschvorstellungen bezüglich einer Kampfkunst in Einklang zu bringen war.

Mein Interesse galt einem System, das einerseits eine kontinuierliche persönliche Weiterentwicklung weit über die Zeit der höchsten körperlichen Leistungsfähigkeit hinaus erlaubt und andererseits realistisches Selbstverteidigungstraining bietet. Die Entwicklung zum (Hoch-)Leistungssport im Taekwondo erschien mir aber als das genaue Gegenteil: Das Regelwerk bedingt eine sich beschleunigende Spirale der Spezialisierung auf einseitige, körperlich verschleißende Trainingsweisen und Wettkampftechniken. Die Folgen davon konnte ich verschiedentlich an Athleten und Trainern sehen, die wegen Knieschäden operiert wurden oder ganz den Sport aufgeben mussten. Nach fünf oder sechs Jahren konnte ich auch erste negative Auswirkungen an mir selbst zu spüren beginnen. Vor allem bei Gelenken wie Knie, Hüfte, Schulter und Ellbogen stellten sich Beschwerden ein.

Hinzu kam eine Tendenz zur Unterordnung individueller Zielsetzungen und Motive unter denen von Verbänden und Funktionären, die den sportlichen Wettkampf zum höchsten Maßstab erhoben hatten. Ich empfand jedoch das Erringen eine Medaille nie als ausreichende Motivation, um einen mir unbekannten Menschen mit voller Wucht ins Gesicht zu treten. Zudem sah ich meine Perspektive nach dem 30. Lebensjahr lediglich darin, andere auf diese Art von Wettkampf vorzubereiten oder sich als Funktionär mit organisatorischen Fragen und Verbandsinteressen zu beschäftigen. Beides erschien mir nicht besonders erstrebenswert.

In diesem Umfeld sah ich keine Möglichkeit mehr, meine eigenen Vorstellungen von Kampfkunst als den Menschen in seiner Gesamtentwicklung unterstützendes System umzusetzen. Auch hielt ich die Spezialisierung auf den Wettkampf für zwangsläufig mit dem Verzicht auf Funktionalität in der Selbstverteidigung verbunden. Aus diesen Gründen gab ich das Taekwondo auf und wechselte Anfang 1988 zum Wing Tsun Kuen (Yongchunquan). Daneben beschäftigte ich mich auch noch mit Escrima. Doch hatte ich nur relativ kurze Zeit Gelegenheit, das Wing Tsun, eine an europäische Bedürfnisse und Marktbedingungen angepasste Variante einer auf den Infight spezialisierten südchinesischen Kampfkunst, zu lernen. Im September 1989 führte mich mein Sinologiestudium nach Peking (Beijing). Mein Interesse an China, seiner Sprache und Kultur, ging letztlich auch auf die Beschäftigung mit den Kampfkünsten zurück.

Der Aufenthalt in China sollte drei Jahre dauern. Ich war nicht in der Erwartung nach China gekommen, dort eine authentische Form des Taijiquan - oder irgendeiner anderen Kampfkunst - erlernen zu können. Tatsächlich war es zu diesem Zeitpunkt nicht einfach, an eine ursprüngliche Kampfkunst heranzukommen. Dies hatte mit der politischen Situation kurz nach dem Tiananmen-Massaker und den damals vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun. Nur eine geringe Zahl von Lehrern authentischer Kampfstile unterrichtete zu jener Zeit Ausländer. Anfang Oktober 1989, etwas mehr als einen Monat nach dem ich in Peking angekommen war, lernte ich meinen zukünftigen Shifu Lu Zhiming, einen Schüler von Wang Yongquan, kennen, als ich für mich auf dem Sportplatz meiner Hochschule Kampftechniken trainierte.

Lu Zhiming führte mich in den folgenden Monaten und Jahren durch ein rigoroses Grundlagentraining, dass nicht nur physisch und psychisch eine solide Basis legen sollte, sondern anscheinend auch den Zweck verfolgte, meine Entschlossenheit auszutesten. Fast drei Jahre später, im Juni 1992 erkannte ich zusammen mit einem in der Generationenfolge älteren Mitschüler im Rahmen einer kleinen Zeremonie Lu Zhiming als meinen Shifu und er uns als seine tudi an. Einen Monat später kehrte ich nach Deutschland zurück. Danach war ich immer wieder über in China, mal Wochen, mal Monate, später auch noch mal für zwei Jahre, und konnte so meine Fortschritte überprüfen und Neues lernen.

 

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©2002-2010 Stefan Gätzner

Mein Weg
zum Taijiquan


Shifu
wörtlich: Lehrervater -
ein Lehrer in der chinesischen Tradition.
Die Beziehung eines Lehrers zu seinem Schüler wird zu einer Quasi-Familienbeziehung im konfuzianischen Sinn. Kurz umschrieben wird dies mit dem Satz: “Lehrer und Schüler sind wie Vater und Sohn”.


tudi
ein enger Schüler in der chinesischen Tradition, der in der Regel seinem Lehrer (shifu siehe oben) lebenslang folgt.
Er wird von seinem Lehrer nach einer Art Probezeit wie ein Sohn adoptiert.