"Am ganzen Körper Wohlbehagen zu empfinden, das ist der Urvater sämtlicher Methoden".
Dieser Leitsatz aus der Yang-Familie ist das Grundprinzip für alle Aspekte des Taijiquan - Energiearbeit, Vitalität, Kampfkunst.
Dies scheint ein einleuchtendes und erstrebenswertes Prinzip zu sein, doch wie kann man es in jeder Situation einhalten? Die
Frage sieht zunächst recht einfach aus, wenn man nur die langsamen Bewegungen aus der Formarbeit des Taijiquan vor Augen hat. Zwar ist es in Wirklichkeit auch sehr schwer, bei der Ausführung von langsamen Bewegungen
eine umfassende Entspannung zu erreichen. Die Problematik dieser Frage wird aber erst richtig deutlich, wenn man die ursprüngliche Zielsetzung des Taijiquan herausgreift, nämlich Effektivität im Zweikampf.
Für Effektivität im Kampf ist es unabdingbar, sich explosiv und dynamisch zu bewegen und hohe Schlagkraft zu entwickeln. In den
meisten Kampfstilen wird dies durch abwechselnde Spannung und Entspannung der oberflächlichen Muskulatur des Rumpfes und der Extremitäten erreicht. Eine tiefere Form der Entspannung in der Bewegung, wie sie im
Taijiquan angestrebt wird, ist dadurch nicht möglich. Weil die bei dieser Methode angewandten Spannungskräfte für den eigenen Bewegungsapparat eine hohe Belastung darstellen, kann es zudem über einen längeren
Zeitraum hinweg zu Schädigungen der Gelenke kommen.
Das Zentrum der Bewegung im Tajiquan liegt im Bereich von Becken, Taille und der Innenseite der unteren Wirbelsäule, d.h. in der
tieferen im Bauch- und Beckenraum verlaufenden Muskulatur. Dort wird bei jeder Richtungsänderung ein Kraftimpuls erzeugt oder in einer fortgeschrittenen Stufe verstärkt, der dann über den korrekt ausgerichteten
Gelenkapparat in die Extremitäten und darüber hinaus übertragen wird. Die Vorspannung für den Kraftimpuls entsteht nicht durch ein Eindrehen der Hüften und Schultern sondern durch ein kurzes, kaum merkliches
Fallenlassen des Körpergewichts über die Hüftgelenke in die Fußsohlen hinein. Dieses Fallenlassen oder Sinken wird durch eine kurze Entspannung der unteren Rückenmuskulatur auf Taillenhöhe ausgelöst. Die Muskulatur
von Schultern und Armen wird bei dem ganzen Prozess im Wesentlichen passiv bewegt. Die Zwischenräume zwischen den einzelnen Wirbeln und zwischen den Gelenken erweitern und verengen sich abwechselnd. Diese Art des
"Öffnens" und "Schließens" bewegt Bindegewebe, Muskulatur, Sehnen, Bänder und sogar innere Organe mit, sodass bei langsamer Bewegung - wie z. B. in der Taijiquan-Form - ein einzigartiger und tief
gehender Massageeffekt erreicht wird. Bei schneller und dynamischer Bewegung in den Kampfanwendungen wird elastische Kraft ausgehend vom oder verstärkt durch das Körperzentrum übertragen.
Die Voraussetzung für diese Art der Bewegung des Körperzentrums ist aber eine völlige Umstellung der Koordination unserer
Bewegungen, so wie wir sie von Jugend an gewöhnt sind. Die "plumpe Kraft", wie sie im Taijiquan bezeichnet wird, muss durch die "innere Kraft", neijin, ersetzt werden. Dies ist in der Regel ein langer und schwieriger Prozess, in dem der Übende gezwungen ist, sehr tief in sich zu gehen, und die weit ins Unbewusste übergegangenen Bewegungsabläufe von Grund auf umzustellen.
Um diese unbewussten Bewegungsabläufe umzugestalten, ist es notwendig, eine Übungsmethodik anzuwenden, die über den gewöhnlichen
Lernprozess beim Erlernen von neuen Bewegungen hinaus geht. Denn die einfachste Weise Bewegungsabläufe zu erlernen, besteht in einem Wechselspiel aus Beobachtung, Visualisierung, Nachahmung und Korrektur des
Nachgeahmten. Doch kann man den inneren Bewegungsablauf, die Kraftübertragung im Körperinneren als außenstehender Beobachter nicht erfassen, solange man ihn selbst nicht beherrscht. Dies ist analog zum Erlernen von
ganz grundlegenden Bewegungsfähigkeiten wie Gehen, Schwimmen oder Fahrrad fahren. Jemand, der z. B. Fahrrad fahren lernen möchte, kann aus der Beobachtung anderer Leute beim Fahrradfahren nur eine beschränkte Menge
an Informationen heraus ziehen, die ihm beim Erlernen weiter hilft. Das entscheidende Element, in diesem Fall das spezifische Gleichgewichtsgefühl für das Fahren auf zwei Rädern, bleibt dem Auge verborgen. Er kann
dieses Gleichgewichtsgefühl nicht einfach nachahmen, er muss es selbst durch wiederholtes Versuchen in sich entwickeln.
Da also dem Taijiquan Schüler einerseits über einfaches Beobachten der Bewegungen des Lehrers die essentiellen Informationen
nicht zugänglich sind und er andererseits unbewusst gewordene Koordinationsmuster auflösen und durch neue ersetzen muss, ist auch eine besondere Lern- und Übungsmethode notwendig. Im Zentrum dieser Übungsmethode
steht eine Schnittstelle zwischen bewusstem Denken und unbewussten Ressourcen von Geist und Körper. Diese Schnittstelle wird im Chinesischen als yi bezeichnet, das subjektive und intuitive Erfassen der
Grundbedeutung einer bestimmten Interaktion von Menschen, Lebewesen oder Gegenständen mit der Umwelt. Diese Interaktionen können ganz einfacher Natur sein, wie das Wegwerfen eines schweren Gewichtes, das Springen
eines Fisches, der Widerstand denn das Wasser einem Körper entgegensetzt. Wichtig ist dabei der unmittelbare subjektive Eindruck, der dem Beobachter durch diese Interaktion vermittelt wird und der auch bei
entsprechender Intensität der Vorstellung dieser Interaktion bestimmte körperliche Reaktionen, die oft bewusst nicht ansteuerbar wären, auslöst. Wie bereits erwähnt, kann eine umfassende Muskelentspannung in der
Bewegung erreicht werden, wenn man sich vorstellt, dass man sich mit dem ganzen Körper im Wasser befindet und bei jeder Bewegung den Widerstand des Wassers fühlt und es mit bewegt. Wenn diese Vorstellung zu einem
realen körperlichen Empfinden wird, kommt es zu der angestrebten Entspannung.
In einem fortgeschritteneren Stadium wird yi so eingesetzt, dass mehrere Vorstellungen miteinander kombiniert werden.
Beispielsweise kann das oben erwähnte Empfinden, sich im Wasser zu bewegen, mit der Vorstellung, dass der Körper von einer Energiekugel umgeben ist, dessen Zentrum im Körper auf Höhe des Bauchnabels ist. Die
Energiekugel wird aus diesem Zentrum heraus verlagert, rotiert, vergrößert oder kontrahiert. Eine Voraussetzung dafür, dass die Energiekugel nicht einfach nur als Visualisierung existiert, sondern wirklich um den
ganzen Körper herum zu spüren ist, ist wiederum das reale Empfinden des Widerstands von Wasser bei sämtlichen Bewegungen und am ganzen Körper.
Diese spezielle Methodik führt zu einer tiefen Entspannung der Rumpf- und Extremitätenmuskulatur. Allmählich bekommt der Übende
dann auch das Gefühl für die innere Energie neiqi. Dies äußert sich in einem Gefühl von energetischer Geladenheit am und im ganzen Körper. Dazu kommen typische Phänomene wie Kribbeln und Wärmegefühl in
Händen und Füßen. Dieses Gefühl der energetischen Geladenheit wird dann in jede Bewegung integriert, so dass schließlich ein Bewegungsmodus entsteht, der den Dreh- und Angelpunkt der Gesundheitsmethode des Taijiquan
darstellt. Diese wird kurz zusammengefasst als:
"Mit Hilfe des yi das qi (gemeint ist neiqi) in Bewegung versetzen und mit Hilfe des qi den Körper bewegen."
Das Gefühl für neiqi bzw. die energetische Geladenheit ist also das Anzeichen dafür, dass eine tief gehende Entspannung erreicht
ist. Deswegen wird dies von seiner Funktion her auch als "Signalflagge" bezeichnet. Darauf aufbauend kann dann die innere Kraft neijin sich entwickeln, die nur durch einen entspannten und integrierten
Körper geleitet werden kann. Das qi bzw. neiqi ist allerdings nicht mit jin bzw. neijin gleichzusetzen. Innere Energie ist nicht dasselbe wie innere Kraft, sondern es zeigt lediglich den Weg dorthin.
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