Der Weg zu den essentiellen Fertigkeiten des Taijiquan als Kampfkunst unterscheidet sich grundsätzlich von der Weise, wie man die meisten bei uns bekannten Kampfstile und erlernt. Bei der Mehrzahl der Kampfstile eignet man sich neben der erforderlichen Grundkraft und Beweglichkeit nach und nach eine gewisse Anzahl von Techniken an. Im Laufe der Zeit kann man sich aus diesem Pool an Techniken ein Destillat an Bewegungsmustern und individuell einsetzbaren Techniken erarbeiten. Dieses Prinzip gilt für die westlichen Kampfsportarten und zahlreiche asiatischen Stile.

Diese Bewegungsmuster unterscheiden sich natürlich von Stil zu Stil. Sie beruhen aber stets auf der Koordination von Spannungs- und Entspannungszuständen der Muskulatur an Rumpf und Extremitäten. Als Beispiel sei ein Fauststoß mit der hinteren rechten Hand beschrieben, wie er in der ein oder anderen Variation in diversen auf Schlagtechniken beruhenden Stilen bekannt ist (dies ist eine konzeptionelle Beschreibung, zur der eine unendliche Variationsbreite gibt - diese Basistechnik hat in den diversen Äußeren Kampfstilen nicht nur unterschiedliche Erscheinungsformen sondern manifestiert auch die grundlegenden Bewegungsprinzipien und die generelle Auffassung des jeweiligen Stils über den Zweikampf):

Von der rechten Schulter aus wird die Bewegung initiiert. Die Hüfte wird gleichzeitig oder kurz danach mit eingedreht, um den die Körpermasse mit in den Schlag zu legen. Eine weitere Verstärkung wird durch das Mitdrehen des rechten Beines und/oder Abstoßen des rechten Ferse erreicht. In dem Moment, wenn die Faust auf ihr Ziel trifft, kann durch eine Rotation oder eine Schnappbewegung des Handgelenks, die Auftreffgeschwindigkeit, -kraft und Eindringtiefe verstärkt werden. Je nach Stil, wird auch noch beim Auftreffen möglichst die Muskulatur des ganzen Körpers angespannt, um einen Rammbock-Effekt zu erzeugen (Die Technik kann je nach Stil auch von der Hüfte oder dem Fuß ausgehend initiiert werden).

Eine solche Technik einzuüben, so dass sie in einer realen Auseinandersetzung, oder auch in einem sportlichen Wettkampf mit großer Regelmäßigkeit effektiv eingesetzt werden kann, dauert je nach Talent und Motivation bei intensivem Training in der Regel zwischen sechs Monaten und drei Jahren. Das der Technik zu Grunde liegende Bewegungsmuster lässt sich nur bedingt auf andere Techniken (z.B. Ellbogenschlag oder Tritt) übertragen, da die Bewegung entweder direkt von dem zuschlagenden Körperteil (Schulter/Arm) ausgeht oder - auch wenn die Bewegung von der Hüfte und damit von der Nähe des Körperzentrums initiiert wird - durch eine fein koordinierte Abfolge von jeweils individuellen Muskelkontraktionen zustande kommt. Dies bedeutet, dass im Prinzip für jede Technik ein bedingt unabhängiges Koordinationsmuster eingeschliffen werden muss.

Der Vorteil dieser Methode ist, dass sie relativ leicht und schnell erlernbar ist, nämlich durch Beobachten, Nachahmen und Wiederholen der verschiedenen Techniken. Zudem ist das zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichte Trainingsniveau mit Einschränkungen (Koordinationsverlust durch den extremen Stress) auch direkt umsetzbar im Kampf. Der Nachteil liegt in der Vielfalt der Bewegungsmuster die zu erlernen sind (weswegen sich viele praktische Anwender auf eine geringe Anzahl von "Lieblingstechniken" beschränken). Darüber ist es schwierig, die Effektivität von Techniken, die auf dieser häufig sehr verschleißintensiven Methode basieren, bis weit über die Lebensmitte hinweg aufrecht zu erhalten.

Im Gegensatz dazu beschäftigt man sich im Taijiquan als einer Kampfkunst zunächst weniger damit, einzelne direkt anwendbare Techniken zu erlernen und am Gegner anzuwenden. Sondern das primäre Ziel ist, den Durchbruch zu einer grundlegenden Fertigkeit zu erreichen, in die alle Bewegungen, Schläge, Stöße, Tritte, Würfe, Hebel usw. integriert sind. Einzelne Techniken dienen lediglich dazu, die grundlegende Fertigkeit in eine äußere Form zu gießen.

Dies lässt sich am besten mit dem Prozess, wie man das Schwimmen lernt, vergleichen. Für den Nichtschwimmer liegt das primäre Ziel darin, zu lernen, wie man sich über Wasser hält. Dieses Bewegungsgefühl ist entscheidend - der Schwimmstil bzw. die einzelnen „Techniken“ wie Brust-, Rückenschwimmen, Kraulen oder Delfin sind dagegen sekundär. Aus dem Nichtschwimmer wird so ein Schwimmer, der die Möglichkeit hat, je nach Trainingszustand die grundlegende Fertigkeit des Schwimmens in Form einer bestimmten Schwimmtechnik auszudrücken.

Im Taijiquan besteht diese grundlegende Fertigkeit darin, einen Kraftimpuls zu erzeugen, der durch den entspannten – aber nicht schlaffen, sondern wie durch elastische Stahlseilen vernetzten – Körper federnd verstärkt wird, und ihn über die Extremitäten  in den Gegner hinein zu übertragen. Die Übertragung erfolgt durch Expansion (und anschließender Kontraktion) des Gelenkapparats und des Rückgrats. Für den Impuls sind hauptsächlich die tiefer liegenden Muskeln im Zentrum des Körpers, wie Lenden- und Darmbeinmuskeln (Iliopsoas), verantwortlich. Die entspannten Muskeln und Sehnen an Rumpf und Extremitäten wirken dabei wie elastische Stahlseile, die den Kraftimpuls leiten und verstärken. Diese Art der Kraft im Taijiquan wird im Chinesischen als jin oder neijin bezeichnet. Auf dieser grundlegenden Fähigkeit bauen sich alle Bewegungen und Techniken auf.

Die Problematik dieser Methode liegt darin, dass sie vor allem für Erwachsene sehr schwer und nur unter großer Beharrlichkeit und Zeitaufwand zu erlernen ist. Hinzu kommt eine weiter Besonderheit: Analog zur Fähigkeit des Schwimmens, erlernt man diese grundlegende Fertigkeit im Taijiquan in Form eines wesentlichen Durchbruchs, auch wenn der Lernprozess bis dahin von einzelnen Stufen gekennzeichnet ist. Das heißt, genauso wie man sich über Wasser halten kann oder nicht, beherrscht man die grundlegende Fertigkeit oder eben nicht. Bis zu diesem durchbruchartigen Verstehen haben die Techniken des Taijiquan wenig Nutzen für die Kampfanwendung. Den Techniken mangelt es sozusagen noch an dem dazugehörigen Motor, der den richtigen Antriebsimpuls liefert. Es fehlt schlicht die Kraft - Schlagkraft und die Kraft, den Gegner zu kontrollieren. Dies ist - neben simplifizierten und unrealistischen Interpretationen der Anwendung der Form - der Hauptgrund, weswegen Vertreter anderer kampforientierter Stile Taijiquan als Kampfkunst nicht sonderlich ernst nehmen. Denn sie erkennen im modernen Taijiquan diese Mängel, nämlich fehlende Schlagkraft und unrealistische Anwendungen.

Dagegen sind die positiven gesundheitlichen Auswirkungen des Taijiquan bei korrekter Übungsweise von Anfang an spürbar. Denn die Erlangung der grundlegenden Fertigkeit hat u.a. eine tiefe Muskelentspannung und eine integrierte Körperhaltung zur Voraussetzung. Dies kann bei Gelenks- und Rückenbeschwerden lindernd wirken. Der gesundheitliche Aspekt ist also stets vorhanden, und wird darüber hinaus durch die Ausrichtung auf die grundlegende Fertigkeit in Form der inneren Kraft neijin bzw. jin fokussiert und präzisiert.

Unter dem Aspekt der Kampfkunst kann wiederum erst nach der Erlangung der grundlegenden Fertigkeiten die eigentliche Arbeit an effizienter Bewegung beginnen. Alle Bewegungen erhalten gleichsam einen neuen „Motor“ und erfahren dadurch eine qualitative Veränderung. Die einzelnen Techniken sind dabei sich ständig anpassende Ausdrucksform der inneren Kraft neijin, und werden oft spontan erzeugt. Aus der einen grundlegenden Fertigkeit entsteht somit situativ eine Vielzahl von Bewegungsformen. Die Ausdrucksmöglichkeit von neijin ist somit spontan und mannigfaltig und mit dem Begriff "Technik" als Beschreibung einer fest definierten Bewegung nicht wirklich zu erfassen.

 

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©2002-2010 Stefan Gätzner

Integration
statt isolierter Bewegungen


jin
Kraft, die von inneren Prozessen des Menschen abhängig ist - also eine Kraft die über Muskelkraft allein oder starre mechanische Kraft hinausgeht.
Die genaue Bezeichnung im Taijiquan ist neijin - wörtlich innere Kraft.