Mein Lehrer Lu Zhiming lernte in den achtziger Jahren von Wang Yongquan den Yang-Stil des Taijiquan. Wang Yongquan seinerseits hatte als Siebenjähriger direkt im Hause Yang unter Yang Chengfu und auch unter dessen Vater Yang Jianhou (dritter Sohn von Yang Luchan, dem Gründer des Yang-Taijiquan) Taijiquan zu lernen begonnen. Nach dem Tod von Yang Jianhou 1917 wurde er dann tudi von Yang Chengfu.

Wang Yongquan nahm Unterricht im Hause Yang bis Yang Chengfu 1928 seine Reise nach Südchina antrat, um dort Taijiquan zu unterrichten. Wang Yongquan, der von Yang Chengfus älterem Bruder Yang Shaohou den Spitznamen "Kleiner Tiger" erhalten hatte, sollte ursprünglich seinen Lehrer begleiten, konnte dies aber aus familiären Gründen zu diesem Zeitpunkt nicht. Wangs Vater war verstorben und es war an ihm, sich um die Familie zu kümmern.

Diese Reise nach Süden von Yang Chengfu kennzeichnete gleichzeitig auch einen weiteren Abschnitt im Wandel des Taijiquan von einer Kampfkunst, die innerhalb eines relativ kleinen Kreises geübt wurde, zu einer weit verbreiteten Gymnastik mit meditativem und gesundheitsförderndem Charakter. In diesem Wandlungsprozess, der bereits mit der Ankunft des Yang-Stils in Beijing seit Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte, wurde Intensität und Schwierigkeitsgrad der Übungen fortlaufend herabgesetzt, um einen möglichst hohen Verbreitungsgrad zu ermöglichen. Der Kampfkunstaspekt mit seinem hohen Anspruch an die physische und psychische Leistungsfähigkeit trat außerhalb der Yang-Familie dagegen immer mehr in den Hintergrund, so dass bald eine Desintegration des ursprünglichen kompletten Systems einsetzte.

Wang Yongquan jedoch hatte Taijiquan noch als Kampfkunst erlernt, für die körperliche Fitness und Gesundheit und psychische Hygiene durch meditative Übungen in erster Linie die Grundlage für eine komplexe und anspruchsvolle Methode der Bewegung mit dem Ziel des Zweikampfes darstellte. Auch nach dem Tod von Yang Chengfu 1936 behielt Wang Yongquan die ursprüngliche Orientierung des Taijiquan als Kampfkunst bei. Das bedeutete auch, dass er - wie in der chinesischen Tradition üblich - die Geheimnisse dieser Kunst nicht leichtfertig preisgab. So lehnte er es z. B. 1957 auf einer Versammlung bekannter Beijinger Wushu-Meister recht brüsk ab, die Geheimnisse des Taijiquan der Öffentlichkeit zugänglich zu machen

Mit fortschreitendem Alter und nach dem Abklingen der politischen Turbulenzen in der Volksrepublik China, die in den Säuberungen und Massenkampagnen der Kulturrevolution (1966-1976) ihren Höhepunkt gefunden hatten, sah Wang Yongquan jedoch die Zeit gekommen, eine größere Anzahl von Schülern anzunehmen. Dies geschah aus der Besorgnis heraus, dass sein Taijiquan für nachfolgende Generationen verloren gehen könnte. So begann er in verschiedenen öffentlichen Einrichtungen zu unterrichten. Einer seiner Schüler wurde Anfang 1982 der damals 19-jährige Lu Zhiming, den Wang bis zu seinem Tod 1987 im Alter von 84 Jahren unterrichtete.

Lu Zhiming stellte schon aufgrund seines Alters eine Ausnahme unter den damaligen Schülern von Wang Yongquan dar. Da bis zu diesem Zeitpunkt das Image des Taijiquan auch in der chinesischen Öffentlichkeit den Wandel hin zu einer gesundheitsfördernden Gymnastik speziell für ältere Leute vollzogen hatte, hatte er größtenteils nur noch Schüler annehmen können, die bereits die Lebensmitte überschritten hatten. Leute dieses Alters haben aber selten noch die körperlichen Voraussetzungen und die Energie, um eine Kampfkunst von Grund auf zu erlernen. Aber auch für einen jungen Mann wie Lu Zhiming war dies kein einfaches Unterfangen. Schließlich aber erklärte Wang Yongquan einige Zeit vor seinem Tod vor seinen anderen Schülern, dass Lu Zhiming den Kern seiner Kunst erlangt hatte.

 

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